Der Breif von Bahman Amouie ist eigentlich an seine Frau, Jila Bani Yaghoub, gerichtet. Liest man aber den Brief, bekommt man das Gefühl, dass der Brief auch an manche im Ausland lebende Iraner geschrieben wurde.
Der Brief stellt zusätzlich die positive Stimmung im Evin Gefängnis dar. Für gute Stimmung im Gefängnis sorgen politischen Gefangene trotz Folterungen und schlechte Haftbedingungen. Amouie erzählt in seinem Brief, wie dies gelingt. Lesen Sie Wort für Wort.
Der vollständige Wortlaut des Briefes, wie er der oppositionellen Webseite Kaleme vorliegt, wurde von Julia übersetzt. Diese Übersetzung des Briefs habe ich von Julias Blog ohne Änderung und Verkürzung übernommen (wer sich zusätzlich für das Vorwort von Kaleme interessiert, kann dies im Julias Blog lesen):
Meine liebe Zhila,
ich sitze auf einem Holzstuhl mit kaputten Armlehnen im Hof von
Abteilung 350 und starre vor mich hin. Seit einer Woche regnet es, die
Sonne lässt sich nicht blicken. Die Wolken sind so dick und dicht, als
wollten sie alles herunterregnen lassen, was sie tragen.
Für mich ist es kalt, der Nordwind bläst und bring kalte Luft heran.
Wie immer, wenn der Herbst beginnt, habe ich jeden Tag das Gefühl, eine
Erkältung zu bekommen. Gegen Ende des Winters werde ich ein paar heftige
Erkältungen haben – du kennst mich ja.
In diesen regnerischen Tagen verbringen wir unsere Tage und Nächte
zumeist in unseren Zellen in Abteilung 350, auf unseren Betten, die die
privatesten Rückzugsorte sind, die wir haben.
Wir sind 18 in unserer Zelle, und wir können nicht einmal eine Tasse
Tee trinken, ohne den anderen zu nahe zu kommen. Das Gefängnis hat
offenbar kein Heizöl mehr, denn es ist kalt, und wir haben kein heißes
Wasser. Seit Tagen habe ich nicht mehr geduscht.
In diesen Tagen denke ich immer öfter daran, was jenseits dieser hohen Mauern ist, und an unsere gemeinsame Zeit.
Heute habe ich beschlossen, dass es vielleicht keine schlechte Idee
wäre, den Brief an dich zum Anlass zu nehmen, um zu Papier zu bringen,
wie ich mich hinter diesen hohen, dicken Mauern fühle.
Du siehst, Zhila, wie selbstsüchtig Männer sind. Selbst wenn wir
unseren Frauen etwas sagen möchten, stellen wir uns selbst noch in den
Mittelpunkt.
Wir sitzen hier manchmal herum und unterhalten uns. Immer, wenn dein
Name fällt, erzähle ich allen, dass du meine Ansichten geändert hast,
wie viel tiefer ich mich jetzt mit Dingen und Menschen beschäftige, und
wie du mir beigebracht hast, den Kleinigkeiten mehr Aufmerksamkeit zu
schenken.
Von dir habe ich gelernt, regelmäßig Bücher über spezielle Themen zu
lesen. Ich verdanke dir viel, unter anderem, dass ich jetzt hier bin,
was eines der wichtigsten und wertvollsten Kapitel meines Lebens ist.
Ohne dich wäre ich jetzt vielleicht ganz woanders in meinem Leben und nicht hier, unter den allerbesten Kindern meines Landes.
Doch ich bin an einen Ort gekommen, auf den ich stolz sein kann,
ebenso wie auf den Lebensweg, den ich gewählt habe. Ich kann mit Stolz
sprechen. So fühlt man sich, wenn man ein politischer Gefangener ist.
Im Moment sitze ich nur wenige Meter entfernt von der hohen Mauer,
die den Hof umgibt. Es ist eine rote Ziegelmauer, die von Stacheldraht
gekrönt ist. Morgens scheint das Sonnenlicht durch diesen Stacheldraht,
und wenn wir Glück haben, sehen wir Nachts den Mond dahinter scheinen.
Vor einigen Tagen sah ich während des Abendappells um 18 Uhr den Mond
im Osten aufgehen. Es war Vollmond. Ich lächelte vor Freude und stellte
mich auf die Zehenspitzen, um den Mond hinter der Mauer besser sehen zu
können.
Alireza Beheshti Shirazi fragte mich mit seinem vertrauten Lächeln,
warum ich lächele, und ich zeigte ihm den Mond und sagte, dass es lange
her sei, dass ich den Mond zuletzt gesehen hätte. Es war, als sei der
Mond hinter demselben Stacheldraht gefangen wie wir.
Mauern, Mauern, Mauern – wo ich auch hinsehe, überall sind Mauern.
Eine 50 Zentimeter dicke rote Mauer, gleichsam als ob jeder Dezimeter
die Geschichte eines Jahrzehnts unseres Leben erzählen würde.
Was ist in den letzten fünfzig Jahren mit diesem Land geschehen?
Dieses Gefängnis wurde anscheinend ja in den 1950er Jahren gebaut.
Es ist, als teilten wir alle und alle Gefangenen vor uns dieselben
Erinnerungen. Jede Ecke dieses Ortes muss wohl Erinnerungen bergen. Ich
streiche mit der Hand über die Mauer und versuche, einige dieser
Erinnerungen zu spüren.
Erinnerst du dich an Mohammad Mehdi Frouzandehpour, den Büromanager
Mir Hossein Moussavis in der Kunstakademie? Wir unterhalten uns jetzt
oft.
Gestern sagte er, dass man unser Denken all die Jahre hinweg so sehr
beeinflusst hat, dass es sich wie Mauern zwischen uns und die anderen
Menschen gestellt hat. Sie haben uns unsere Gesellschaft und unser Volk
nicht so sehen lassen, wie sie wirklich sind.
Sie haben die Menschen mit verschiedenen Überzeugungen und Ideologien
versehen, die nicht unbedingt wahr sind, und all diese Überzeugungen
und Ideologien wurden in unseren Köpfen zu Tabus, denen wir uns auf
keinen Fall nähern sollten.
Frouzandehpour sagte mit Bedauern: „In den Monaten, die ich im
Gefängnis verbracht habe, ist mir klar geworden, wie sehr wir uns selbst
isoliert haben und wie wenig wir andere gesehen haben.“
Er sprach von den nationalreligiösen Aktivsten, mit denen er sich
eine Zelle teilt. „Es sind sehr freundliche und aufrichtige Menschen,
ebenso wie die linken Studenten. Warum hat man uns das nicht wissen
lassen und uns nicht erlaubt, diese Leute als die Menschen zu sehen, die
sie sind?“
Was Frouzandehpour da sagte, war sehr interessant. Ich hatte kürzlich
genau über dasselbe nachgedacht. Wände, Mauern, noch mehr Mauern.
Gestern ging das Gerücht, dass es heißes Wasser gibt. Wir alle
stellten uns in die Schlange, um zu duschen. Der Anblick dieser Szene
ließ mich plötzlich denken: Jede Facette der iranischen Gesellschaft ist
hier repräsentiert, das gesamte politische Spektrum.
Mohsen Mirdamadi, der frühere Gouverneur und Parlamentsabgeordnete,
unterhielt sich mit linken Studenten. Javad Lari, ein Mitglied der
Volksmojahedin (MKO), spülte Geschirr. Fayzollah Arabsorkhi duschte
gerade. Der nationalreligiöse Aktivist Alireza Rejaei tippte mir auf die
Schulter und sagte, ich würde wohl der letzte sein, der unter die
Dusche geht.
Zhila, wie weit wir all diese Jahre voneinander entfernt waren, und
wie nah wir einander jetzt sind. Ich weiß nicht, aber ich glaube, dass
wir nach dreißig Jahren gegenseitiger Feindschaft jetzt unsere
Differenzen beiseite gelegt haben. Wir sind alle zusammen, wenn auch im
Gefängnis. Ist es nicht genau das, was die Grüne Bewegung will?
Wir hatten Gelegenheit, miteinander zu reden – etwas, das wir alle
vorher nur zögernd getan hätten. Wir waren zu Feinden geworden. Wir
nannten einander Ungläubige, Ketzer und Gegner der Revolution des
Volkes.
Vor einigen Tagen holten sie Amin Niyaeifar zum Auspeitschen. Er ist
21 Jahre alt und wiegt nicht mal 50 Kilo. Er ist sehr dünn. Als sie
diesen Studenten, der an der Teheran-Universität Maschinenbau studiert,
in unsere Abteilung brachten, haben alle mit ihm gescherzt und gesagt,
dass er jetzt, wo er hier ist, mehr essen kann und nicht mehr so
unterernährt sein wird.
Als er von der Auspeitschung zurückkam, konnten wir die
blutunterlaufenen blauen Striemen auf seinem Rücken sehen. Wir wussten
nicht, was wir tun sollten. Viele andere Gefangene aus den umliegenden
Zellen kamen zu uns in die Zelle. Wir scherzten und lachten, um die
schwere, traurige Stimmung aufzuhellen.
Zhila, lass mich dir etwas interessantes erzählen. Wir machen hier
etwas, was mir einen Anlass gibt, an dich zu denken. In diesen
Situationen stelle ich mir immer vor, wie du vor mir stehst.
Jeden Freitag Nachmittag versammeln wir uns im 200 m großen Hof von
Evin. Der Student Ali Malihi veranstaltet dort ein Programm mit dem
Namen „Kultur und Natur“. Wir sitzen im Hof und stellen uns vor, mitten
in der saftig grünen Natur zu sein. Einige rezitieren Gedichte, andere
singen Lieder. Wir applaudieren den Vortragenden. Wir versuchen, dabei
möglichst laut zu sein. Weißt du, warum? Du hast ja wahrscheinlich
gehört, dass die weiblichen politischen Gefangenen jetzt unsere Nachbarn
sind – sie befinden sich gleich hinter der Mauer.
Wir klatschen also heftig und versuchen, sehr laut und fröhlich zu
sein, um den Frauen auf der anderen Seite der Mauer etwas von unserer
Fröhlichkeit zu geben. Wir tun das, damit wir sagen können: Wir sind
hier, und wir sind unzählig viele.
Der Arbeiteraktivist Ebrahim Madadi ruft ganz laut „Hallo“ und hofft,
dass die Frauen auf der anderen Seite der Mauer es hören. Obwohl wir
nicht wissen, ob sie uns hören können oder nicht.
Manchmal stelle ich mir vor, dass du auch dabei bist, neben Bahareh
Hedayat, Nasrin Sotoudeh, Mahdiyeh Golrou, Atefeh Nabavi und den
anderen.
Noch interessanter ist, dass wir sie manchmal lachen hören – so als wollten sie ihre Fröhlichkeit auch mit uns teilen.
Wenn Asghar Mahmoudian, der Vater und der Sohn Daneshvar, Vahid
Laaleipour und Hamed Yazerloo das Lachen der Frauen hören, steigen ihnen
Tränen der Freude in die Augen. Ihre Frauen und Mütter sind unter den
Gefangenen. Ihre Liebsten befinden sich nur wenige Meter entfernt,
jenseits der hohen Mauern. Es ist so schwer, geliebte Menschen so nah
bei sich zu haben und sie trotzdem nur alle paar Wochen 20 Minuten lang
sehen zu können.
Meine liebe Zhila, ich vermisse dich so sehr. Manchmal denke ich, es
wäre gar nicht so schlimm, wenn sie deine Haftstrafe vollstrecken
würden, denn dann könntest du auf der anderen Seite der Mauer sein. Und
ich würde dein Lachen hören, so wie Vahid seine Frau Mahdiyeh lachen
hört.
Zudem könnten wir uns immer wieder von Angesicht zu Angesicht sehen,
und wenn wir Glück haben, würden wir uns sogar in der Krankenstation
begegnen.
Manchmal denke ich sogar, dass das Gefängnis heutzutage für Menschen
wie dich der sicherste Ort ist. Hier gibt es wenigstens zwei Mal am Tag
einen Appell. Wenn draußen mehrere Menschen am Tag vermisst werden,
macht das einige Leute vielleicht sogar glücklich. Darum glaube ich,
dass du im Gefängnis jetzt sicherer wärst.
Zhila, du glaubst nicht, was für Leute sie in den letzten Wochen
verhaftet und hierher gebracht haben – zum Beispiel einen
Lastwagenfahrer und einen 75 Jahre alten Mann. Beide sagen, dass sie zu
Hause saßen und eine Sendung des Fernsehens der Islamischen Republik
angeschaut haben, in der berichtet wurde, dass die Arbeitslosigkeit
zurückgegangen ist und die Wirtschaftslage sich verbessert hat. Sie
sagen, dass sie über diese Lügen im staatlichen Fernsehen so wütend
wurden, dass sie auf die Straße gingen und mit Graffiti gegen diese
Lügen protestierten. Sie wurden verhaftet.
Heute brachten sie einen Universitätsprofessor aus Isfahan, den sie
seinem Hörsaal abgehört hatten. Das, was er in seiner Vorlesung gesagt
hatte, habe wie regimefeindliche Propaganda geklungen, sagen sie. Nach
35 Tagen Einzelhaft im Gefängnis von Isfahan haben sie ihn hierher
gebracht.
Tja, Zhila – was kann ich dir noch erzählen. Du weißt, dass es für
einen Mann wie mich, der mit der Bakhtiyari-Kultur großgeworden ist,
sehr schwer ist, seine Gefühle auszudrücken. Vielleicht habe ich deshalb
versucht, mich mit diesen Worten auszudrücken. Ich habe all diese
anderen Dinge geschrieben, um dir zu sagen, dass du immer gütig zu mir
warst und mir immer verziehen hast. Du bist das Beste, was mir in meinem
ganzen Leben passiert ist.
Bahman Ahmadi Amouei
Donnerstag, 3. November 2011
3 Uhr Morgens, Evin, Abteilung 350, Zelle 9
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